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#ChristopheHuysman 10. Hirngespinste, Erbrechen, Kulte

Freitag 16. Dezember 2016, von Christophe Huysman, Kristin Schulz (DATUM EINER FRÜHEREN BEARBEITUNG 3. November 2013).

„In den Straßen von Damaskus reißt die Sprache, kaum angekommen, alles mit sich, verbindet sich den Schritten, den Besuchen, den Begleitungen. Die Leute hier sind nicht nur reizend, aufmerksam, sondern befinden sich in einer derart großen Leere oder einem Trugbild des Austauschs, so dass sie ihre Zeit vollständig ihrer Stadt hingeben; lebendig und entschlossen, lebendig zu sein.“


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© 2013 Christophe Huysman Le cri sourd
Série auto-photographique 2. / Self portrait series 2. / Selbstporträt 2 (Source fb)



10. HIRNGESPINSTE, ERBRECHEN, KULTE
            Vorgegebene Rahmen, offener Raum.



Der Läufer, der starre Mann, der Beobachter             Der Chirurg aus Damaskus liegt in einer Tragbahre, sie sind alle gelb angemalt, sie rennen. In den Straßen von Damaskus reißt die Sprache, kaum angekommen, alles mit sich, verbindet sich den Schritten, den Besuchen, den Begleitungen. Die Leute hier sind nicht nur reizend, aufmerksam, sondern befinden sich in einer derart großen Leere oder einem Trugbild des Austauschs, so dass sie ihre Zeit vollständig ihrer Stadt hingeben; lebendig und entschlossen, lebendig zu sein.


Durcheinandergebrachter Körper Nr. 26


Der Chirurg aus Damaskus              Er erzählt eine Geschichte. — „Ein alter Herr und ein junges Mädchen heiraten. Jeden Abend gehen sie schlafen, er ergreift also vorsichtig ihre Hand, und sie schlafen ein. So geht es alle Abende vor sich. Doch eines Morgens wacht das Mädchen verwundert auf; sie fragt den alten Herrn, warum er am Vorabend nicht ihre Hand ergriffen hat. Er antwortet ihr: entschuldige, meine Liebe, ich war müde.“


Durcheinandergebrachter Körper Nr. 27


Zwei „Blauhelme“ finnischer Nationalität

1 — Der Geruch von Ammoniak sticht mir in die Nase. 2 — Ein heftiges Treiben.

Der Läufer — Ich bin jeder Elite müde.

Der Beobachter — Du bist in der ältesten noch bewohnten Stadt der Welt.

Der starre Mann             Syrische Grenze. Ich habe auf meinem Einreiseformular angegeben, dass ich Dichter bin. Ich hatte demnach den Anspruch auf eine kleine Befragung nach den Regeln: — Politischer Schriftsteller? — Für wen? — Wo? — Warum sind Sie hier? — Was schreiben Sie? … Ich antworte übertrieben freundlich, dass ich sentimentale Komödien und Lieder schreibe. — Lieder? — Ja, Liebeslieder. — Und wie gehen Ihre Liebeslieder aus? — Gut, immer gut, die Liebe geht immer gut aus. Die Zöllner grinsen, Tränen in den Augen, wechseln Blicke heimlicher Übereinkunft und lachen schließlich lauthals. — Liebesgeschichten gehen immer gut aus! Und sie setzen den Stempel auf meinen Pass und wünschen mir eine gute Reise. Vor mir hat ein Mann weniger Glück gehabt, seine Liebesgeschichte ging eher schlecht aus, als Araber mit zusätzlich amerikanischer Nationalität hatte er gerade eine gnadenlose Abfuhr erteilt bekommen, und als er seinen anderen, diesmal libanesischen Pass vorzeigt, erklärt man ihm, dass es zu spät sei! Gestoßen, verleugnet, wird er offiziell rausgeworfen. Zwei einfältige Blauhelme finnischer Nationalität an meiner Seite haben in jeder Hinsicht Recht, sie selbst sind darüber sehr verwundert. Sie scheinen sich zu fragen, was sie da tun.

Zwei „Blauhelme“ finnischer Nationalität             Äußerst liebenswert. 1 & 2 — Was tun wir hier? Sie erwecken den Anschein, ins Ferienlager aufzubrechen.


Durcheinandergebrachter Körper Nr. 28


Die Not gegenüber dem Zweifel             Sie ist rot, die Augen blutunterlaufen, das Elend der Völker, von denen wir keine Neuigkeiten haben. Sie kann doppelt zusammengefaltet sein. Man kann auch einen verrenkten und roten Körper sehen, der freundlich „Guten Tag“ sagt.

Du hast mich heute, zu diesem genauen Zeitpunkt, in deiner Nähe begehrt. Mir diese Vorstellung zu bieten. War es nötig, dass du dir deswegen Vorwürfe machst, richte dich an mich und du richtest dich an mich. Ich habe einen Moment lang daran gedacht, auszuplündern, was du mir ausplündern hättest können und noch nicht geplündert hast, das, was ich mir vorgestellt hätte, du plündertest es, und was kann ich schon für dich Verirrten tun, ich, die ich zusammengeschrumpft in einer so ungewissen Lage bin?

Der Läufer — Ich würde gern heimkehren zu mir.

Die Not gegenüber dem Zweifel             Doppelt gefaltet. — Der eingenommene Platz verhandelt sich, der einzunehmende Platz verhandelt sich, seine Rechtmäßigkeit verhandeln. Der Betonung ihrer Stimme schreit „sogar ich!“..

            Ohrenbetäubendes Treiben.

Der Läufer             In der Nacht zusammengefaltet, sehr grelle und flüchtige Töne, Fahrradklingeln, aufgezeichnete elektronische Musik, die sich auf einige Noten beschränkt (sich vorstellen, dass das Einlegen des Rückwärtsganges eines Fahrzeugs den „Lambada“ auslöst), etc. … Der Taxifahrer, der mich ins Stadtzentrum in Richtung Souk Saroujah bringt, befragt mich ohne Umschweife zu meiner Religion. Mir wird bewusst, wie sehr dies von Bedeutung ist, und mein Laizismus erschrickt sich zu Tode, ich denke an meinen Großvater, der katholisch war, und antworte in diesem Sinne. Der Fahrer scheint sehr zufrieden, er ist ebenfalls katholisch und vor allem gesprächig; er zeigt mir jetzt die heilige Jungfrau, die ihn in diesem Taxi begleitet und die fluoreszierend am Ende einer Feder auf dem Armaturenbrett hin und her schaukelt. Ich fange an mir vorzustellen, dass ich mich, wenn ich die heilige Jungfrau wäre, ständig übergeben müsste.

Der Beobachter             Er ist grün. Die von Sinan erbaute Moschee ist für die Zeit der Gebete geschlossen, anschließend ist sie geschlossen, weil keine Gebetszeit mehr ist, also ist sie geschlossen; ich begnüge mich mit dem angrenzenden Armeemuseum in dem großen, verwilderten Garten, der sie umgibt, Überrest alten, aufgegebenen Glanzes. Ich irre in den langgestreckten Räumen umher, die zunächst retrospektiv angelegt und mit ziselierten Dolchen gefüllt sind, die Räume des Erdgeschosses blicken auf den besagten, verlassenen Garten, in dem ein paar ebenfalls aufgegebene Modelle verrosteter Flugzeuge, aufgerissener Jeeps, verstreuter Panzer in dem Durcheinander der Pflanzen ruhen. Ein Brachland. Im Verlaufe meines Besuchs bemächtigen sich meiner die Zweifel, ich beginne den Aufbau, den Sinn dieses Museums nicht länger zu verstehen. Objekte, Gewehre, Granaten, Porträts — in den Vitrinen angehäuftes Material, wirklich angehäuft, mit einem Neonlicht über der Anhäufung, ohne Schild, ohne Erklärung — ein Konglomerat der Jahre, der Kriege, der Bedrohungen, deren Wirklichkeitsgehalt geschweige denn deren Funktionsstörung zu begreifen mir nicht gelingt, ich kann mir noch nicht einmal die solcherart vorgestellte Nation vergegenwärtigen. Von diesen Aquarien zusammengewürfelter, militärischer Gegenstände steigen das Gelächter, das Entsetzen auf, die Vorstellung der Tränen und der durchwachsenen Überzeugung, ein beinahe nutzloser Spott. Ich denke an Beuys und an die Fluxusbewegung, auch an Arman, aufgehäuft, an unsere Haufen, an Darstellungen, von denen der Mensch ausgeschlossen ist, Ausstellungen mit persönlichen Folgen — an eine mögliche Installation eben dieses Armeemuseums in unseren westlichen Ländern, die so erfinderisch sind, wenn es um historische und Kriegsdarstellungen geht. Eine Ausstellung eines Museums der Besiegten im Land der Sieger. Unterdessen gelange ich in einen possenhaften Saal, in dem der Ruhm des ersten und einzigen Syrers gefeiert wird, der im Weltraum um die Erde gekreist ist; so hängen die Kombination, der Pullover, der Unterziehpullover und die Handschuhe und Strümpfe, sich wiederholende und zusammengehörende Porträts von Gorbatschow mit Leberfleck und von Afez-el-Assad ohne Leberfleck aufgereiht; ich weiß nicht, warum ich an Wim Wenders und an seine Naivität denke. Oder vielmehr doch, die gewaltsame und unerträgliche Empfindung der Mischung in diesem Museum – die schwindelerregende Empfindung des Abstands zwischen der kindlichen Collage und der Unmöglichkeit, einen einzigen Augenblick lang in meinen eigenen Überzeugungen zu vergessen, dass es sich um eine Mordmaschine handelt — lässt das Possenhafte in dem einzigen menschlichen Wahnsinn einen zugebilligten Moment lang erstarren, erzeugt wieder die Leere in der sinnlosen Rede. „Selbst die dürftigen und beinahe zusammenhanglosen Zeichen unterdrücken in ihrer brutalen Abfolge. Jedes kindliche Zeichen in dem Gemetzel löst ein unleugbares Gefühl aus“, würden wir in unseren anregenden Kommentaren behaupten. Auch jedes Staubkorn. Ein Museum der Waisen.

            Geräusch eines defekten Rohrsystems.

Der starre Mann             Das Fleisch und die Knochen, Bahnhof von Aleppo.

          – Ein Zug fährt in den Bahnhof ein, ich werde nachsehen, ob es sich nicht um den Nachtzug nach Damaskus handelt. Nein. Ich weiß weder wo er herkommt noch wo er hinfährt; aber ich bin erstaunt, in dieser besonderen Atmosphäre der Bahnhöfe in der Nacht einen leeren Zug zu sehen, bei dem alle Fenster aufgrund von Einschüssen der Kugeln gestreift und durchlöchert sind, der Anblick ist überraschend. — Hier im Bahnhof. Die Fortbewegung der Menschen in ihrem Fluss und ihren Zwischenfällen ist bemerkenswert. Viel verschiedene Kleidung. Die Schuhe und ihr Zustand erzählen, woher die Leute kommen. Die Toiletten stinken. — Die Kronleuchter des Bahnhofs von Aleppo sind prächtig. — Die Soldaten halten sich am Arm. Einer der Soldaten stützt sich beim Auf-und-ab-Gehen auf die Schulter eines seiner Kameraden und schaut ihn mit einer entwaffnenden Zärtlichkeit an. — Ein ziemlich dicker Mann mit verkümmerten Beinen schiebt sich mit Hilfe seiner Arme über den Boden, dabei verrenkt sich sein Rücken auf merkwürdige Weise, als ob er kein Skelett besäße, man könnte meinen, eine Art Sack voller Gelatine: er folgt einem Paar Mann/Frau eines bestimmten Alters, die schwarz gekleidet sind und deren Gang würdevoll und schwankend ist. Die Gruppe untergehakter Soldaten geht auf und ab. Ein Typ, klein, (ein Russe?) mit verschlagenem Aussehen, blauen Augen, braunen Haaren und voller Humor, mit Cowboystiefeln, deren Absätze mit Eisen beschlagen sind („klack klack“), schaut regelmäßig in seine Brieftasche mit Klettverschlüssen („ritsch!“), stützt sich auf einen großen, silbrig schimmernden Heizkörper aus Eisen, nachdem sein Körper eine Drehung um sich selbst vollzieht, die mir jedes Mal die Gelegenheit gibt, seinen schönen Hintern zu bewundern, bevor sich sein Blick mit einer vergnügten Zielgerichtetheit in meine Augen versenkt, er genießt es, genauestens unter seiner gespannten Hose angeschaut zu werden, mit Hilfe seines Körpers vermittelt er den Eindruck, nicht von hier zu sein, und nach der Versenkung des gesendeten Blicks geht er schnurstracks auf eine Tür zu, immer dieselbe, wendet sich dann der Brieftasche zu, dem Heizkörper und so weiter. — Ein schöner, hochgewachsener Junge mit sehr sanften, schwarzen Augen ist fasziniert von meiner Hand, die übers Papier eilt. Es ist wahr, ich habe hier an keinem einzigen öffentlichen Ort jemanden schreiben sehen. — Eine Gruppe folgendermaßen bekleideter Personen: Sakkos westlicher Manier über langen Männerkleidern, farbenfrohe Kleider mit Blumen und palmyrenische Frisuren mit langen auf den Rücken fallenden Stoffbändern für die Frauen, in lebhaftes Rot und Grün gekleidete Kinder auf den Armen der Frauen; sie führen die Bewegungen einer neugierigen Gruppe aus, sie scheinen verirrt: ein Mann löst sich aus der Gruppe, er erkundigt sich schließlich, die Männer sind besorgt, die Frauen großartig, mit funkelndem Blick, die Kinder eingeschlafen. Die Schritte nicht vergessen, die gebeugten Nacken der Männer, die funkelnden Blicke der Frauen vor allem, den Geruch der Toiletten, die verschiedenen Arten, Wasser und Urin abzulassen, die Propaganda der Regierung …

            Ich verspüre bei der Ankunft einen feinen Regen auf meinem Gesicht, dieser Umstand erinnert mich daran, dass ich mich gen Norden bewege, in Richtung der Nervosität, zu den heftigeren und rebellischeren Ergüssen. Die Politik der Körper ist mir nicht fremd. Das Geld kann hier alles kaufen, Getränke, Sex, Nahrung … Ich streife Europa, dies ist nicht länger ein Beduinenland, andere augenblicklich zu deutende Versuchungen sind vorhanden. Man empfindet die Wehmut der Orte, eine erstaunliche Wehmut des Staubkorns bis hin zu den zerstörten und zerstörerischen Mythen, nicht nur die Wehmut der verlassenen Zitadelle, die die Stadt bestimmt und die Verbindungsgänge des Souk, sondern eine politische Wehmut, lebhaft angesichts der funkelnden Blicke, stolz, zugänglich, vertraut, grundsätzlich, organisiert; eine handgemachte, geistige und geschlechtliche Wehmut. Trinken, lachen und Anmerkungen machen. Eine Stadt der Bedürfnisse, eine Stadt voller Blicke und Aufmerksamkeiten, eine Stadt der Rendezvous, der Diskretionen, der Erleichterungen.

            Am Abend meiner Abfahrt bietet mir ein junger kurdischer Bauer, Sido, schwarze, glänzende Augen, rundes Gesicht mit vollen, geröteten Wangen, ohne ein Wort einen Strauß nachtblauer Iris an; ich lese auf seinem Gesicht, dass er begriffen hat, dass ich abreise, diese offene Aufmerksamkeit wirft mich um. Ein Gesicht, so gegenwärtig in der Welt, ohne Qual, das ich niemals vergessen werde.

            Die Erinnerung an eine Ruhe, die sich nicht in irgendeiner Müdigkeit erschöpfen würde.



© Christophe Huysman: Les hommes dégringolés. Les Solitaires intempestifs-Verlag 2001.


„10 Verrückte, Erbrechen, Kulte“. Auszug. © Christophe Huysman: Les Hommes Degringolés | Die heruntergestürzten Menschen.
© Übersetzungen Kristin Schulz: Scène 8. Institut français Deutschland 2005.


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P.S.

Les hommes dégringolés @ Les Hommes Penchés, laboratoire mobile

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